Unser Nervensystem ist darauf ausgelegt, uns in Gefahrensituationen zu schützen. Die bekannten Reaktionsmuster „Fight“ (Kampf), „Flight“ (Flucht) und „Freeze“ (Erstarren) sind natürliche Überlebensstrategien, die unser Körper aktiviert, wenn wir Stress oder Bedrohung erleben. Doch es gibt noch eine vierte Reaktionsform…
…die oft weniger beachtet wird: die sogenannte Fawn Response – das „Gefallenwollen“ oder die Anpassung an die Bedürfnisse anderer, um Konflikte oder potenzielle Gefahren zu entschärfen.
In diesem Artikel schauen wir uns die Fawn Response genauer an, wie sie sich von den anderen Reaktionsformen unterscheidet und welche Rolle sie bei Angsterkrankungen wie Agoraphobie und Panikattacken spielt. Zusätzlich werfen wir noch einmal einen intensiveren Blick auf die Freeze-Reaktion und ihre Bedeutung.
Was ist die Fawn Response?
Die Fawn Response beschreibt eine unbewusste Strategie, in der wir uns anpassen, um die Gunst oder Zustimmung anderer zu gewinnen und so eine Bedrohung abzuwenden. Während Kampf, Flucht und Erstarren darauf abzielen, physische oder psychische Sicherheit durch Widerstand oder Rückzug zu erreichen, fokussiert sich die Fawn Response darauf, Konflikte zu vermeiden, indem man sich möglichst kooperativ, gefällig oder unsichtbar verhält.
Diese Reaktion ist häufig bei Menschen zu beobachten, die in stressvollen oder gefährlichen Beziehungen (z. B. emotionaler Missbrauch, Traumata) aufgewachsen sind. Sie lernen, dass Anpassung und Gefallen der sicherste Weg sind, um Stress oder Gefahr zu minimieren.
Beispiele für die Fawn Response
- Übermäßiges Gefallenwollen: Jemand sagt immer „Ja“, auch wenn es den eigenen Bedürfnissen widerspricht, aus Angst vor Ablehnung oder Konfrontation.
- Überangepassheit: Menschen vermeiden es, ihre Meinung zu äußern oder Grenzen zu setzen, um Spannungen zu vermeiden
- Selbstaufopferung: Die eigenen Wünsche werden ignoriert, um die Harmonie zu bewahren oder andere zufriedenzustellen.
Mögliche Verbindung zwischen Fawn Response und Angsterkrankungen
Bei Angsterkrankungen wie Agoraphobie oder Panikattacken kann die Fawn Response eine bedeutende Rolle spielen. Menschen, die unter einer starken Anpassungstendenz leiden, erleben häufig:
- Überforderung und Erschöpfung: Die ständige Anpassung an die Erwartungen anderer führt zu chronischem Stress, da eigene Bedürfnisse dauerhaft unterdrückt werden.
- Verstärkung von Angstzuständen: Das Gefühl, keine Kontrolle über die eigenen Entscheidungen zu haben, kann Panikattacken oder Agoraphobie verschärfen.
- Verminderte Selbstwirksamkeit: Betroffene glauben oft, dass sie ohne die Zustimmung anderer nicht zurechtkommen, was das Selbstwertgefühl beeinträchtigt.
Freeze: Wenn Erstarren zur Falle wird
Neben der Fawn Response ist die Freeze-Reaktion eine der häufigsten Reaktionen bei Menschen mit Angsterkrankungen. Während Fight und Flight aktiv auf die Bedrohung reagieren, zeichnet sich Freeze durch eine totale Blockade aus. Der Körper schaltet in einen Zustand von „eingefrorener“ Angst, in dem weder Flucht noch Angriff möglich erscheinen.
Symptome der Freeze-Reaktion
- Gefühl der Handlungsunfähigkeit
- Gedankenkreisen oder das Gefühl „festzustecken“
- Körperliche Symptome wie Schweregefühl, Zittern oder Taubheit
Die Freeze-Reaktion kann bei Agoraphobie und Panikattacken besonders belastend sein, da Betroffene das Gefühl haben, in ihrer Angst gefangen zu sein. Anders als bei Fight oder Flight, die oft einen aktiven Ausweg aus der Situation suchen, hält Freeze Menschen in einem Zustand völliger Starre.
Die Gemeinsamkeiten zwischen Freeze und Fawn
Obwohl Freeze und Fawn auf den ersten Blick unterschiedlich wirken, haben sie gemeinsame Wurzeln:
- Beide sind Reaktionen auf überwältigende Bedrohung: Während Freeze den Körper „abschaltet“, ziel Fawn darauf ab, die Situation zu deeskalieren, in dem man sich unterordnet.
- Verlust der eigenen Selbst: In beiden Zuständen fühlt sich der Mensch von seiner eigenen Handlungsfähigkeit abgetrennt.
- Langfristige Folgen: Chronisches Erstarren oder Anpassungsverhalten kann zu erhöhter Angst, Stress und einem Gefühl der Hilfslosigkeit führen.
Umgang mit der Fawn Response und Freeze
Der erste Schritt, um mit diesen Reaktionsmustern umzugehen, ist, sie zu erkennen und zu verstehen. Hier sind einige Strategien, die helfen können:
1. Bewusstsein schaffen
Reflektiere deine Reaktionen: Gibt es Situationen, in denen du automatisch anderen zustimmst, obwohl es dir schadet? Oder Momente, in denen du dich emotional oder physisch „eingefroren“ fühlst?
2. Selbstfürsorge stärken
Fawn und Freeze führen oft zu Vernachlässigung eigener Bedürfnisse. Praktiken wie achtsame Selbstreflexion oder Körperarbeit (z. B. Yoga, somatische Übungen) können helfen, die Verbindung zu sich selbst wiederherzustellen.
3. Grenzen setzen üben
Menschen mit einer ausgeprägten Fawn Response haben oft Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen. Kleine Schritte in Richtung klarer Kommunikation können das Selbstbewusstsein stärken.
4. Therapeutische Unterstützung suchen
Traumatherapie oder Methoden wie EMDR, somatische Ansätze oder die Arbeit mit der Polyvagaltheorie können helfen, eingefahrene Muster zu lösen und das Nervensystem zu regulieren.
Fazit
Neben den bekannten Reaktionsformen Fight, Flight und Freeze ist die Fawn Response eine oft übersehene Strategie, die sich besonders in zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt. Während sie kurzfristig vor Konflikten schützen kann, führt sie langfristig häufig zu einem Gefühl der Entfremdung von den eigenen Bedürfnissen und verstärkt Angstzustände.
Sowohl Fawn als auch Freeze verdeutlichen, wie unser Nervensystem auf überwältigende Bedrohungen reagiert. Indem wir diese Muster erkennen und verstehen, können wir beginnen, sie zu verändern und uns selbst wieder näherzukommen. Der Weg zu mehr innerer Sicherheit beginnt damit, unserem Nervensystem neue Möglichkeiten zu eröffnen – ein Schritt, der Mut und Geduld erfordert, aber langfristig zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung führt.