Ich hatte also wirklich neuen Mut gefasst. Ich war eigentlich fast wieder im Leben angekommen! Fast.
In mir war immer noch ein Gefühl, dass ich ständig auf der Hut sein müsse. Die Panik könnte in jeder Sekunde erbarmungslos wieder ihr Gesicht zeigen. Ich setzte mich den Situationen mutig aus, aber immer in völliger Konzentration und in völliger gedanklicher Kontrolle über das aktuelle Befinden. Ich war immer noch stets auf der Hut und in großer Erwartungshaltung, dass mich eine Panikattacke überkommen könnte.
Ich fühlte mich oft müde, ich war in der Mittagszeit sehr ausgelaugt. Mir gefielen bestimmte Wetterlagen nicht, an denen ich meine Aktivitäten in der Tat noch stark abhängig machte, aber ich war auch bereit schwierigere Situationen zu meistern und eigentlich kletterte ich die Leiter stetig empor und ließ meine Angst doch immer mehr hinter mir. Ich hatte zwar immer ein Notfallpaket bei mir – sei es ein Getränk, sei es etwas zu Essen…ohne dieses „Notfallpaket“ fühlte ich mich ausgeliefert…aber ich vermied Situationen immer weniger..
Von Tabletten hatte ich seit der Erfahrung mit dem Benzodiazepin immer meine Finger gelassen und nie wieder in dieser Richtung jemals etwas eingenommen.
Ich hatte große Freude daran Nachhilfe zu geben – ich betreute zwei, drei Nachhilfemädchen, die mir sehr, sehr am Herzen lagen. Eine kam sogar jeden Tag zu mir..es war für mich sehr spannend, herausfordernd sie trotz einer schwierigen Familiensituation ihren Schulweg zu begleiten und erleben zu dürfen, wie sie sich entwickelte…in ihrer Persönlichkeit wuchs, denn auch sie hatte einen mächtigen Rucksack auf dem Rücken. Sicher „erkannte“ ich auch vieles in mir – wo ich mir damals Hilfe gewünscht hatte, habe ich keine erhalten und es war mir wichtig diese geben zu können, damit ein junges Mädchen nicht „alleine“ den Weg ins Abseits rennen musste.
Aufgrund meiner Vorgeschichte lebte ich immer noch sehr isoliert, sehr vorsichtig. Teilweise hatte ich eine sehr große Unsicherheit entwickelt auf andere Menschen zuzugehen bzw. mich auch auf sie einzulassen.
Mit einem Verwandten wagte ich mich ab und zu abends in ein Lokal und ich genoss das Gefühl „Etwas zu trinken“, zu lachen..es gab Leute, die mich einfach kennenlernten, neu kennenlernten ohne meinen Ballast. Ein verdammt gutes Gefühl…aus dem ich sehr, sehr viel Kraft schöpfte..und mich zugegeben, ja, einfach „Normal“ fühlte. Unbeschwert!
Ich war immer noch eine „große“ Briefeschreiberin. Zu dieser Zeit hatte das Internet noch keinen so gewichtigen Einfluss auf das Leben der Menschen. Es wurden noch Briefe geschrieben…
Ich entschied mich “ Eine Brieffreunde gesucht-Anzeige“ aufzugeben. Das tat ich…und es flatterte auch zahlreich Post an. An dieser Stelle möchte ich auch erwähnen, dass ein Kontakt zu einer ganz lieben Person immer noch andauert. Das ist nunmehr schon über 14 Jahre her…dafür bin ich immer noch sehr dankbar. Und ja wir schreiben uns immer noch auf die völlig altmodische Art mit Füller und Brief…und es macht einfach eine Riesenfreude.
Aufgrund dieser Anzeige änderte sich aber mein Leben, erneut! Das Leben wandte sich wieder in Richtung: Rolltreppe abwärts! Und dieses Mal in einer für mich heute unglaublich geduldeten Heftigkeit. Es wird mir schwer fallen dafür die richtigen Worte zu finden, aber ich möchte sie finden. Diese Worte sind nämlich mein Schritt, mein wichtiger Schritt mich selber im“ Jetzt und Hier“ zu akzeptieren mit den Erlebnissen und auch vielleicht ein Signal zu senden: Wir Menschen tragen alle unsere Koffer und geraten in Situationen, wo wir uns vielleicht selber weder mögen noch gar erkennen, gar selber auch schämen und dennoch müssen wir uns betrachten..einfach eine erschreckende Menschlichkeit präsentieren und das Eingeständnis machen, dass wir keinesfalls perfekt leben können.
Unter diesen neuen Brieffreundschaften war auch ein Kontakt zu einem 6-Jahre älteren Mann aus Neu-Ulm. Er schrieb nett – er schrieb über sein bewegtes Leben, legte ansprechende, handgefertigte Zeichnungen bei. Ich war immer schon Kunstinteressiert und zeichnete, malte ebenso sehr gerne.. Es war deutlich, dass er sich viele Gedanken machte, dass ich ihn kennen lernen würde wollen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt aber eigentlich nur das Thema “ Brieffreund“ im Kopf! Ich hätte nie ahnen können, dass dieser Mensch einmal mein Leben völlig aus den Bahnen lenken wird.. dominieren, beherrschen sowie zerstören wird.
Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.
Er beschrieb sich als „Bodyguard“ und berichtete von Reisen, Eindrücken dieser, beklagte auch das für ihn daraus resultierende einsame Leben und es klang alles für mich sehr plausibel…sehr authentisch.
Es war ein kalter Oktobertag – die Sonne hatte geschienen. Der Nachmittag näherte sich dem Ende und mein Jeden-Tag-Nachhilfekind hatte sich gerade verabschiedet. Plötzlich schellte es! Es stand ein Mann vor der Tür, den ich nicht kannte. Ich wohnte zu diesem Zeitpunkt wieder mit im Haus meiner Eltern. Er stellte sich als dieser Brieffreund vor! Ich war emotional erst einmal völlig überfahren..Ich hatte ihm im Vorfeld im Briefaustausch bereits über meine Angstgeschichte berichtet, auch, dass ich sie bereits schon sehr gut überwunden hatte und ambitioniert fortschreite…! Er schaute mich erwartungsvoll an und ich war wirklich so durcheinander, so verwundert, dass ich ihn erst einmal ins Haus bat..ich war verlegen.
An diesem Abend war alles für mich neu. Ich war immer etwas scheu gewesen – nicht besonders “ gut“ im Umgang mit Männern. Ich habe nie über Gefühle reden können oder innere Wünsche, Gedanken aussprechen können.
Leider auch heute noch nicht..lieber bin ich in vielen Situationen eher leidend, als fordernd..
Ich war mehr ein „braves Lämmchen!“. Männererfahrung – ich war damals 27 Jahre – hatte ich so gut wie keine. In mir war ich eine kleine Träumerin, mit den menschlichen Sehnsüchten nach einem Partner, mit dem Liebe, Vertrauen, Gemeinsamkeiten gelebt und erlebt werden können. Der gedankliche zu Irrealismus neigende Kitschroman im Kopf, der aber der Seele so viele positive Gefühle vermittelt..
Der Brieffreund gestand mir seine Verliebtheit ein, was mich nun vollkommen aus der Fassung brachte und sagte, dass er hier in meiner Stadt beschlossen hätte zu bleiben. Er würde sich nach einer Wohnung oder einer Kaufimmobilie umsehen und würde hier wohnen wollen und sein „unstetes“ Leben ändern wollen. Nicht mehr aus Koffern leben, nicht mehr diese Reiserei im Alltag erleben..
Meine Eltern waren natürlich auch sehr irritiert, blieben aber höflich..Es wurde viel geredet. Er redete viel über sein Leben.
Er hätte seine Frau und Tochter bei einem Autounfall verloren..Dieses Thema traf mich mitten ins Herz, denn seine Augen zeigten Bilder von großer Traurigkeit und Tränen.
Ich war schon immer ein sehr sensibler, feinfühlender Mensch, der fast die Schmerzen anderer Menschen selber spüren konnte, wenn mir Menschen ihre Schicksale offenbarten. Er erreichte damit meine Gefühle…leider war es gelogen, aber das fand ich erst viele Jahre später heraus. Er war auch kein „Bodyguard“ sondern hatte im Gefängnis gesessen….
Es stellte sich schnell heraus, dass er nur mit einem kleinen Koffer gekommen war – er hatte sich in einem kleineren Hotel in unserem Ort eingemietet. Nach knapp einer Woche hatte er aber das Hotel gewechselt..
(wie ich später herausfand, weil er dem Zahlen der Rechnung entgehen musste und wollte).
Natürlich wird jeder, der das hier liest mich als schrecklich naiv einstufen. Ja! Ich schüttele bejahend den Kopf.
Ich war naiv – für mich gab es fast nur gute Menschen…ich glaubte, ich vertraute. So war ich damals.
Jedenfalls schaffte er es durch geschickte Erzählungen, dass meine Eltern ihm anboten, dass er bis zum Umzug in seine neue Immobilie bei uns bleiben dürfe. Er zeigte in der Tat auch Häuser, er fuhr mit mir welche besichtigen. Er verhandelte mit Makler …alles war sehr authentisch.
Er telefonierte mit Leuten, die er als Bekannte bezeichnete;…es war nur irgendwann sehr deutlich, dass er weder Ambitionen hegte zu arbeiten ( er gab an genügend Geld zu besitzen), aber auch gleichsam kein Geld zur Verfügung hatte.
Meine Eltern „sprangen“ aber ein und sorgten für Kost und Logie sowie „bediente“ ich mich an meinen Ersparnissen..
Er versprach aus Dankbarkeit meinem Vater ein Auto zu besorgen. Es sei doch ganz einfach, denn sein Schwager würde bei VW arbeiten und er würde meinem Vater einen PKW besorgen zu absoluten Sonderkonditionen. Auch hier führte er lebendige Telefongespräche.. er benutzte immer mein Handy, da er selber keins besaß und mein Handy schellte auch zu Zeitpunkten, an denen er angab, dass ihn diese oder jene Person kontaktieren würde. Nur ich konnte ein Gespräch nie entgegennehmen. Er passte immer sehr genau auf, dass sich so eine Situation erst gar nicht ergeben konnte. Ich muss schon sagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt erste Gefühle von Misstrauen entdeckte und meine „feinen“ Antennen irritiert waren. Aber durch seine Art schaffte er damals immer diese, sobald ich sie ausgesprochen hatte in einer sehr charmanten Art und Weise wieder niederzureißen.
Es änderte sich aber nichts – Monate vergingen und mein Erspartes wurde auch langsam weniger. Er erzählte nun, dass es sich alles ein wenig verzögern würde, da sein Vater Italiener war und einen Schmuckladen in Florenz hätte und gerade vollkommen im Stress steckte. Aber er würde kommen und ihm sein Geld bringen, damit er endlich die Immobilie kaufen könne..
Ans Arbeiten dachte er natürlich nicht.. er sagte mir, dass sein Vater mich einstellen würde. Ich sollte für ihn Schmuckbestellungen innerhalb Deutschland beaufsichtigen und den Kundenservice übernehmen. Sogar die passende Krankenkasse – nebst Schriftmaterial präsentierte er. Ich stellte zu dieser Zeit fest, dass mein Schmuck verschwand. Es fehlte auch immer mal Geld aus meiner Geldbörse. Ich habe es aber nicht beweisen können und da ich ein Mensch bin, der nicht ungerecht sein möchte..schwieg ich. Mein inneres Wissen war aber, dass er es mir wegnahm, weggenommen hatte..
Auf meinen Handyrechnungen entdeckte ich, dass es immer kostspielige Weckdienste gab, die man mir abrechnete…
Das verwunderte mich und ich vermutete einen Fehler des Netzbetreibers und kontaktierte diesen. Nein, gab man mir zu Antwort – ich hätte diesen Service gebucht. Viele Male..sehr viele Male..
Und dann fand sich zufällig die Antwort..Mein Handy schellte – es lag in der unteren Etage..ich rief herunter: Mama, geh Du bitte schon einmal ‚dran! In diesem Momente raste mein damaliger Freund wie von der Tarantel gestochen herunter..und wollte das Handy meiner Mutter aus der Hand reißen. Er schaffte es nicht… Sie war schon schneller gewesen! Sie hatte einen Weckdienst am Ohr.
Und nun war es völlig klar! Er hatte nicht mit seinem Vater oder anderen Personen telefoniert. Es war alles nur gespielt gewesen. Aber er stritt es weiterhin vehement ab…aber seit diesem Tag gab es keine Weckrufe mehr! Er führte kaum noch Telefongespräche mehr in meinem Beisein, sondern berichtete davon in eine Telefonzelle gegangen zu sein oder gab an angerufen worden zu sein, als ich duschte oder nicht im selben Raum mit ihm war…Ich weiß bis heute nicht, warum ich das alles so einfach hinnahm. Ich schäme mich auch dafür, für meine Dummheit und Naivität.
Natürlich wurde auch die Wohnsituation nicht angenehmer. Wir hausten in meinen beiden kleinen Kinderzimmern – ich war langsam schon sehr traurig, dass ich immer noch nicht arbeiten konnte, da er angab, dass sein Vater mir noch ein wenig Urlaub gönnen würde bevor der richtige Stress für mich losgehen würde. Er beruhigte mich…
Ich war immer noch in der Hoffnung ihm seine Erzählungen glauben zu können und schenkte ihm trotz der Erkenntnisse der Weckrufe weiter Vertrauen, vielleicht weil ich nicht anders gekonnt hatte, damals .Vielleicht weil ich es nicht anders hatte sehen wollte..vielleicht weil ich mir nicht ausmalen konnte, dass ein Mensch bewusst solch ‚ein Verhalten hätte.
Es würde alles bezahlt werden – die Krankenkasse würde bezahlt und mein Gehalt würde mir auch nachgezahlt werden. Meine Güte war ich naiv! Ich schenkte allem immer noch Glauben…
Nun gab er auch einen Termin an, an dem sein Schwager das Auto für meinen Vater bringen würde. Aber auch diese Termine wurden immer wieder verschoben. Seine unglaubliche Kreativität in plausiblen Ausreden finden bleibt unbestritten einzigartig, welches auch viele andere Menschen, die ihn erlebten und kennenlernten ähnlich empfanden und mir das auch so schilderten. Ich bin heute noch vollkommen erstaunt, woher man solche Ideen hernimmt..
Irgendwann hieß es sein italienischer Papa würde das Auto persönlich bringen – auch um uns alle kennenzulernen. Natürlich freute ich mich und innerlich dachte ich: Es wird doch alles gut! Ich hoffte es..ich weiß, dass in mir schon eine nun größere Skepsis gewachsen war..Mein Freund, der gerne kochte, bereitete sogar ein italienisches Essen für viele Personen vor und ließ uns Vorbereitungen treffen. Es sollten 5 Personen kommen. Sein Vater, dessen Frau und seine zwei Stiefschwestern, über deren Leben er sehr intensiv geredet hatte.
Natürlich kam sein Vater nicht…und wie erklärte er es mir und meiner Familie? Er kam tief getroffen von einer Einkaufstour kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt des Eintreffens seiner Familie mit meinem Auto wieder und sagte, man hätte ihn kontaktiert – sein Vater wäre auf der Fahrt hierher tödlich verunglückt. Es fielen echte Tränen – alles präsentierte er in einer völligen Glaubwürdigkeit der Situation angepasst. Was machst Du da? Ich schluckte und trauerte mit. Mein Vater bot ihm jede Unterstützung an – er lieh ihm sogar das Auto, damit er zur Beerdigung fahren könne und besorgte ihm einen schwarzen Anzug, gab ihm Geld. Mein Gott, was waren wir naiv! Heute kann ich es selber kaum glauben, während ich das hier so tippe…Natürlich stimmte auch diese Geschichte nicht, wie ich es lange Zeit später herausfand… Ich weiß bis heute nicht, ob überhaupt jemals etwas seiner Erzählungen gestimmt hat….
Der Gedanke „Menschen“ sterben zu lassen, um sich Vorteile zu erschaffen, war mir zu abwegig…Damals für mich nicht existenziell!